„Fühlbarer“ Fortschritt

Wissenschaftler aus Luxemburg arbeiten an haptischen Bildschirmen und neuartigen Kraftwerken.

Source : Luxemburger Wort
Publication date : 01/27/2021

 

Die Situation dürfte den meisten bekannt vorkommen. Man sitzt im Auto und denkt, dass es zu heiß ist, die Klimaanlage zu stark bläst oder man das Lied, das gerade im Radio läuft, keine weitere Sekunde mehr erträgt. Die Suche nach dem passenden Sender oder der richtigen Temperatur kann aber schnell lebensbedrohlich werden, wenn man dabei die Straße aus den Augen lässt, um im Bedienfeld an der Mittelkonsole nach den richtigen Knöpfen zu schauen.

Der Materialwissenschaftler Emmanuel Defay vom Luxembourg Institute of Science and Technology (LIST) arbeitet an einer Technologie, die in dieser Lage helfen könnte. Die Idee ist es, einen Bildschirm zu entwickeln, auf dem man die benötigten Funktionen intuitiv ertasten kann, ohne dabei die Straße aus den Augen zu verlieren. Zwar geben viele Handybildschirme auch heute schon „haptische“ Rückmeldungen, aber diese sind noch zu ungenau, um den Nutzer wirklich leiten zu können.

Um wirklich eine Bedienung mithilfe des Tastsinns zu ermöglichen, gingen Emmanuel Defay und sein Forschungsteam daher 2018 eine Kooperation mit dem Start-Up Hap2U aus dem französischen Grenoble ein. Das Unternehmen ist einer der Vorreiter im Bereich haptischer Bildschirme. So konnte Hap2U im Jahr 2018 den Autobauer Daimler als Investor gewinnen. Denkbare Anwendungen für den digitalisierten Tastsinn gibt es viele: Die Handhabung von Bildschirmen aller Art würde nicht nur einfacher und intuitiver werden, sondern die Technologie könnte auch Menschen mit Sehbehinderung die Bedienung solcher Geräte ermöglichen. Chirurgen könnten medizintechnische Instrumente bedienen, ohne den Blick von dem Patienten zu nehmen. Bei entsprechender Weiterentwicklung könnte die Technik es sogar ermöglichen, die Textur von Gegenständen genau wiederzugeben. OnlineShoppern würde es beispielsweise erlauben, die Qualität des Stoffes von Kleidungsstücken zu erfühlen.

Noch nicht am Ziel

Die Grundlage für die Technologie ist Piezoelektrizität. Vereinfacht gesprochen, ist damit gemeint, dass bestimmte Materialien sich deformieren und somit ihre Eigenschaften verändern, wenn man ein elektrisches Feld anlegt. Eine Reihe elektronischer Geräte wie Quarzuhren oder Lautsprecher basieren auf der präzisen Steuerung dieser Felder. Das Tastgefühl in den Bildschirmen entsteht durch akustische Wellen in sehr hoher Frequenz, die gezielt an der Oberfläche der Bildschirme erzeugt werden.

In dem Kooperationsprojekt entwickelte das Start-up die Hardware, die Forscher des LIST konzentrierten sich darauf, wie die notwendigen piezoelektrischen Materialien möglichst unsichtbar auf der Bildschirmoberfläche aufgebracht werden können. „Unser Ausgangspunkt ist immer die Materialwissenschaft. Ausgehend davon entwickeln wir die Anwendungen“, sagt Defay. „Die Idee war, dass wir die Materialien direkt auf das Glas drucken. Die Leute von Hap2U waren auf uns zugekommen, weil sie wussten, dass wir an entsprechenden Verfahren mit Inkjet-Druckern arbeiten.“ Bis es soweit ist, sind aber noch einige technische Barrieren zu überwinden. „Ich denke, dass wir noch mindestens fünf Jahre von einer kommerziellen Anwendung entfernt sind“, sagt Emmanuel Defay. Mit der Entwicklung der Technologie sei man noch nicht am Ziel, gibt Defay zu, aber man wisse nun genau, in welche Richtung weitergeforscht werden müsse. Aus dem Kooperationsprojekt, das im November nach zweijähriger Laufzeit abgeschlossen wurde, gingen zwei Patente hervor. Ist die Technologie erst mal so weit, dass sie kommerziell eingesetzt werden kann, will das LIST durch Lizenzzahlungen auf die Patente mitverdienen.

Effizientere Kühlschränke

Aber die Entwicklung eines Bildschirms für den Tastsinn ist nicht die einzige potenziell bahnbrechende Technologie, an der Emmanuel Defay forscht. Der gemeinsame Nenner seiner Arbeit sind piezoelektrische Werkstoffe und funktional verwandte Materialien. So beschrieb er im vergangen Jahr im angesehenen Wissenschaftsblatt „Science“, wie sich die Temperaturen bestimmter Materialien durch das Anlegen elektrischer Felder um einige Grad senken lassen können. „Das könnte zur Entwicklung von deutlich energieeffizienteren Kühlschränken oder Klimaanlagen führen“, erklärt er. Umgekehrt könnte das Prinzip aber auch genutzt werden, um durch die geschickte Ausnutzung von Temperaturunterschieden elektrischen Strom zu gewinnen. Das könnte zu einer neuen Art von Solarkraftwerken führen, die nicht auf direkte Sonneneinstrahlung angewiesen ist, um Energie zu erzeugen. Solche Anlagen könnten auch nachts laufen, erklärt er, betont aber: „Hier stehen wir noch ganz am Anfang der Entwicklung.“

THOMAS KLEIN

 

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