Digitaler Doppelgänger für Luxemburg

Ein virtuelles Modell des Großherzogtums soll künftig bei kniffligen politischen Entscheidungen helfen

Source : Luxemburger Wort
Date de publication : 06/01/2020

 

Geht es nach Thomas Kallstenius, dem Chef des Luxembourg Institute of Science and Technology (LIST), dann gibt es Luxemburg bald zweimal: einmal analog und einmal digital. Zusammen mit Forschungspartnern verfolgt das LIST nämlich das Ziel, einen „digitalen Zwilling“, also ein virtuelles Abbild, des Großherzogtums zu verwirklichen.

Die Methode des „Digital Twinning“ wird in manchen Branchen bereits flächendeckend genutzt. Vorreiter sind große Industriekonzerne wie Siemens und GE, die zunächst Computermodelle ihrer Fabriken erstellen, bevor diese in der realen Welt gebaut werden. Die digitalen Fertigungslinien enthalten alle wesentlichen Eigenschaften ihrer realen Zwillinge. Dadurch können Fertigungsabläufe simuliert und etwaige Probleme vorausgesehen werden. Wenn die Fabrik digital einwandfrei läuft, kann ihr analoger Doppelgänger folgen. Im Idealfall werden die Daten aus den realen Fertigungslinien dann wieder in den digitalen Zwilling eingespeist und erlauben so permanente Verbesserungen. „Das kann zum einen helfen, Probleme zurückzuverfolgen und zu beseitigen. Zum anderen kann man virtuell testen, was passieren würde, wenn man die Produktion umstellt“, erklärt Kallstenius.

Dieses Grundprinzip ist auf eine Menge möglicher Einsatzgebiete übertragbar. So unterhalten zum Beispiel Flugzeugbauer virtuelle Modelle ihrer Maschinen mit einem Katalog der Materialeigenschaften aller verwendeten Bauteile. 

Füttert man in dieses Modell die Historie des Flugzeugs wie Betriebsstunden oder Belastungsspitzen, kann man voraussagen, wann eine Komponente ans Ende ihres Lebenszyklus kommt und ausgetauscht werden muss. Das Analysehaus Gartner rechnet damit, dass bis 2021 die Hälfte aller großen Industriefirmen digitale Zwillinge einsetzen werden.

„Hervorragende Infrastruktur“

Ähnlich haben einige Städte das Konzept aufgegriffen. So startete Antwerpen 2018 ein Projekt mit dem Namen „City of Things“, das unter anderem Verkehrsdaten mit Informationen zu Luftqualität und Lärmbelastung kombinierte. Mit Hilfe des Computermodells soll simuliert werden, welche Maßnahmen sinnvoll wären, um die Situation zu verbessern, und welche Auswirkungen diese auf die Verkehrssituation in der gesamten Stadt haben.

Kallstenius, der selbst an dem Projekt in Antwerpen beteiligt war, und seine Kollegen vom LIST schlagen nun vor, ein solches digitales Modell von ganz Luxemburg zu erstellen. „Die Simulation eines ganzen Landes ist eine gewagte Idee, aber es ist technisch umsetzbar. Derzeit ist das für größere Staaten wie Belgien oder Frankreich nicht möglich; für Luxemburg würde das aber funktionieren. Das wäre das erste Mal, dass das für einen Staat umgesetzt wird, einschließlich des Zusammenspiels zwischen urbanen und ländlichen Regionen“, erklärt Kallstenius.

Er sieht alle Voraussetzungen gegeben, dass Luxemburg zugleich Vorreiter und Experimentierfeld für den Einsatz dieser Technologien wird. „Es gibt eine hervorragende Infrastruktur in diesem Land, sowohl was die Kommunikationsnetzwerke als auch die Verfügbarkeit von Hochleistungsrechnern angeht. Beispielsweise gehört das computergestützte System zur Messung der Produktion und des Verbrauchs von Strom zu den fortschrittlichsten Europas, wenn nicht der Welt“, so der Forscher.

Unterstützung bei der Verkehrsplanung

Als Erstes möchte Kallstenius die Technologie in den Bereichen Energie, Mobilität und Stadtplanung einsetzen. Wenn das System funktioniert, könnte es helfen, politische und wirtschaftliche Entscheidungen zu verbessern, indem die Folgewirkungen simuliert werden: Durch die Analyse von Verkehrsflüssen könnten Entscheidungsträger beispielsweise das Angebot im öffentlichen Transport optimieren oder den idealen Standort von Ladesäulen für Elektroautos bestimmen.

Das Verkehrschaos im November rund um den Bahnhof aufgrund zu vieler Baustellen hätte möglicherweise vermieden werden können, wenn die Autoflüsse im Vorfeld akkurat simuliert worden wären. „Der Ansatz kann nicht nur politisch Verantwortliche bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützen, sondern auch die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern und Unternehmen helfen, neue Produkte und Dienstleistungen in einer kontrollierten Umgebung zu testen“, so der Chef des LIST.

Nach der Vorstellung der Forscher soll aus der Idee des digitalen Zwillings eine Plattform entstehen, die allen offensteht, die informierte Entscheidungen treffen wollen: Konsumenten sollen den tatsächlichen ökologischen Fußabdruck ihres Elektroautos ebenso simulieren können wie Unternehmer den wahrscheinlichen Bedarf an ihren Produkten.

Einsatz künstlicher Intelligenz

Damit aber tatsächlich alle relevanten Faktoren berücksichtigt und alle Folgewirkungen von Entscheidungen bedacht werden können, muss die Simulationstechnologie weiterentwickelt werden. So soll der Einsatz künstlicher Intelligenz dabei helfen, komplexe Muster und Zusammenhänge zu erkennen, die für Menschen oder für herkömmliche Computeralgorithmen schwer zu entdecken sind.

Datenschutz im Mittelpunkt

Daneben ist sich Kallstenius der Tatsache bewusst, dass es viele Bürger beunruhigen dürfte, wenn eine digitale Plattform oder der Staat massenhaft Daten über das Verhalten der Einwohner sammelt und auswertet. Daher betont er, dass die Frage des Datenschutzes bereits in die Entwicklung der Technologie eingebettet sein soll; er spricht von „Privacy by Design“. „Das bedeutet, dass wir keine personenbezogenen Daten sammeln. Vielmehr werten wir die Daten dort aus, wo sie liegen, und entnehmen nur die Teilinformationen, die für unsere Analyse notwendig sind“, versichert er. „Die Daten dürfen niemals ihren Speicherort verlassen. Die zur Auswertung der Daten verwendeten Algorithmen werden stetig kritisch überprüft und hinterfragt.“ Wie genau der digitale Zwilling Luxemburgs einmal aussehen soll, steht derweil noch in den Sternen. Im Moment gibt es lediglich ein erstes Pilotprojekt in Belval, in dem die Forscher ein digitales Abbild der Gebäude erstellt haben und so zum Beispiel die Auswirkungen baulicher Veränderungen auf die Energiebilanz simulieren können. „Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen und die Methode iterativ verbessern. Für uns ist es wichtig, dass wir alle Stakeholder überzeugen können, uns auf dieser Reise zu begleiten“, so der Schwede Kallstenius.

Derzeit erstellen die Forscher eine Studie, die darlegt, wie die Idee auf das ganze Land ausgerollt werden könnte. Diese soll in ungefähr einem Jahr als Diskussionsgrundlage vorgestellt werden. Große Anfangsinvestitionen seien dabei nicht notwendig, versichert Kallstenius. „Ein Großteil der notwendigen Infrastruktur existiert bereits, müsste also nur noch entsprechend verknüpft werden.“

Thomas KLEIN

 

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