Eine Million gefährdete Arten

Nicolas Titeux ist Leiter der Beobachtungsstelle für Klima, Umwelt und Biodiversität in der Abteilung für Umweltforschung und -innovation am Luxembourg Institute of Science and Technology, LIST. Klima- und Artenschutz sollten mehr miteinander verknüpft werden, sagt er im Interview.

Source : Revue
Date de publication : 23/11/2022

 

Der Klimawandel ist ein viel besprochenes Thema. Doch darüber hinaus ist die biologische Vielfalt, also die Biodiversität, bedroht. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation weltweit?

Sie ist schlecht und wird schlechter. Aber es ist leider ein Thema, das in der Öffentlichkeit nicht so diskutiert wird wie der Klimawandel. In einer globalen Studie, einer Meta-Analyse, haben wir gerade versucht darzulegen, wie die Situation ist.

Eine Meta-Analyse bedeutet, dass Sie bereits vorhandene Studien gemeinsam ausgewertet haben, um ein aussagekräftigeres Ergebnis zu bekommen?

Genau, wir haben versucht herauszufinden, welche die wichtigsten Ursachen für den Verlust von Biodiversität sind. Das wären die Veränderung der Nutzung von Land, die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen, der Klimawandel, die generelle Verschmutzung von Luft, Wasser und Land und invasive Arten. Diese fünf üben einen enormen Druck auf die biologische Vielfalt aus, wobei wir herausgefunden haben, dass die veränderte Landnutzung und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen die beiden Hauptfaktoren sind. Danach kommen dann der Klimawandel und die Verschmutzung in etwa zu gleichen Teilen.

Das heißt aber, dass Klimawandel und Verlust der Biodiversität zusammenhängen?

Wahrscheinlich wird der Einfluss des Klimawandels zunehmen, weil die Folgen des Klimawandels immer größer werden. Aber, um noch einmal darauf hinzuweisen: Im Moment ist nicht der Klimawandel die Hauptursache für den Verlust der biologischen Vielfalt. Es ist die Art, wie wir das Land nutzen und mit unseren Ressourcen umgehen, wie wir Landwirtschaft und Fischfang betreiben, dass Wälder abgeholzt werden und natürliche Lebensräume von Tieren verschwinden.

Aber sind einige dieser Ursachen nicht auch mitverantwortlich für den Klimawandel?

Es hängt natürlich miteinander zusammen. Deshalb sollten wir uns nicht auf eine Sache konzentrieren, sondern auf alle. Wir können uns nicht nur um den Klimawandel kümmern, sondern auch um die Biodiversität. Sie ist für das Wohlergehen und auch das Weiterleben von uns Menschen existenziell. Deshalb dürfen wir die beiden Themen nicht isoliert betrachten. Jetzt war gerade die UN-Klimakonferenz, und nächsten Monat wird eine ähnliche Konferenz zum Thema Biodiversität in Montreal stattfinden. Im Moment sind die beiden Gebiete noch nicht ausreichend verbunden. Aber in Zukunft sollten Synergien entstehen und gegenseitige Absprachen erfolgen.

Können die Ziele dieser beiden internationalen Abkommen auch kollidieren?

Ein Beispiel dafür ist Biotreibstoff. Um die Pflanzen anzubauen, die man zur Herstellung braucht, werden Regenwälder oder natürliche Ökosysteme genutzt. Da gibt es einen direkten Einfluss auf die Biodiversität. Je mehr Biotreibstoff hergestellt werden muss, desto mehr Flächen müssen dafür benutzt werden und natürliche Lebensräume verschwinden. Das ist ein typischer Interessenkonflikt. Meiner Meinung nach ist es deshalb sehr wichtig, die Maßnahmen gegen den Klimawandel und die für den Erhalt der Biodiversität miteinander zu verschmelzen. Damit könnte man auch verhindern, dass der Klimawandel den Verlust der Biodiversität mit voranschiebt. Zudem gibt es naturbasierte Lösungsansätze, die sowohl dem Klimawandel entgegenwirken als auch die Biodiversität fördern. Ein gutes Beispiel ist die Agroforstwirtschaft, die Land- und Forstwirtschaft kombiniert. Aber natürlich können diese Lösungen den Übergang zu nachhaltigerem Konsum und Produktion nicht ersetzen.

Aber nochmal: Wie schlimm ist die Situation? Gibt es Zahlen?

Eine Million Arten, Lebewesen und Pflanzen, gelten als gefährdet, das ist ein Achtel aller Arten auf der Erde. Also eine von acht Arten ist bedroht. Wenn wir die Wirbeltiere betrachten, vor allem in Zentral- und Südamerika, sehen wir, dass der Bestand stark abgenommen hat. Damit meine ich die Anzahl der Tiere insgesamt. In den vergangenen 50 Jahren hat sich der Bestand dort um 95 Prozent verringert.

Warum ist die biologische Vielfalt so wichtig? Und wie gefährlich wäre ein Verlust der Biodiversität für uns?

Ein gesundes Ökosystem versorgt die menschliche Gesellschaft mit Essen, mit Material, mit allem, was wir brauchen. Das Problem ist nicht eine Art, die ausstirbt oder vom Aussterben bedroht ist. Das ist vielleicht ein ethisches Problem, dass wir schuld sind daran, dass andere Lebewesen aussterben. Das Problem ist, dass ein Ökosystem so funktioniert, dass jede einzelne Art in dem System eine bestimmte Rolle hat, auch wenn diese Rolle für Menschen vielleicht nicht wichtig sein mag. Für die Funktionalität eines Ökosystems ist jede Art wichtig. Entfernt man ein Puzzlestückchen, ist ein Teil des Systems nicht mehr funktionstüchtig, dann sieht man das ganze Bild nicht mehr.

Das verständlichste Beispiel ist doch das Bestäuben der Pflanzen durch die Bienen, oder? Wenn es keine Bienen mehr gibt, findet keine Bestäubung mehr statt.

Aber Honigbienen sind nicht die einzigen Insekten, die für die Bestäubung sorgen. Es gibt auch wilde Bienen, die genauso wichtig sind überall auf der Erde. Fehlen diese Bestäuber, bricht ein ganzes System zusammen. Wenn eine Art vorhanden ist, hat sie auch eine bestimmte Rolle im Ökosystem, ansonsten wäre sie nicht da. Werden diese Systeme gestört, ist das gesamte Leben auf der Erde bedroht, inklusive das menschliche Leben.

Wie sieht Ihre Arbeit hier in Luxemburg aus? Forschen Sie im Land?

Ja, wir haben unterschiedliche Projekte, bei denen wir vor allem Messungen und Beobachtungen in Bezug auf unterschiedliche Arten machen. Da arbeiten wir zusammen mit den Umwelt-, Klima- und Nachhaltigkeitsministerien sowie der Naturverwaltung und dem Wasserwirtschaftsamt. Unser Fokus liegt dabei auf den geschützten Arten, die durch europäische Direktiven geschützt sind und überwacht werden müssen. Außerdem kontrollieren wir die Verbreitung invasiver Arten und seit einigen Jahren auch die wildlebenden Bestäuber, also wilde Bienen und andere Insekten, die für die Bestäubung von Pflanzen verantwortlich sind.

Wenn Sie überwachen sagen, wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben unterschiedliche Möglichkeiten. Wobei die alle standardisiert sind. Es gibt sehr strikte Prozeduren, die man dabei einhalten muss, damit die gesammelten Daten standortübergreifend und über Jahre vergleichbar sind. Wir arbeiten mit vielen Kollegen in ganz Europa zusammen und brauchen dafür natürlich diese Standards. Wir nutzen auch Kameras und Kamerafallen, zum Beispiel für die Wildkatzen in Luxemburg. Und mit dem Fonds National de la Recherche, FNR, haben wir ein Projekt, um Kamerafallen für Amphibien, also unter Wasser, zu entwickeln.

Sie stellen Ihre eigenen Geräte her?

Beim LIST wird nicht nur Forschung betrieben, wir entwickeln auch die Werkzeuge für unsere Forschung. Wir haben somit ein breites Feld für unsere Untersuchungen, was aber gut ist, da unser Forschungsfeld auch sehr divers ist.

Forschung ist sehr zeitaufwendig. Man muss geduldig und sehr genau sein und alles mehrfach kontrollieren, um den internationalen Standards zu genügen. Ist das manchmal frustrierend, wenn man sieht, wie einem die Zeit davonrennt und inzwischen Tier- und Pflanzenarten aussterben?

Ich versuche das normalerweise auszublenden für meine eigene mentale Gesundheit. Aber es ist wahr: Es ist deprimierend zu sehen, wie sich die Situation immer weiter verschlechtert. Aber unsere Rolle ist es, das zu dokumentieren, zu zeigen und mögliche Lösungen für die Probleme zu finden.

Lösungen zu finden und diese dann auch durchzusetzen sind aber zwei verschiedene Dinge, oder?

Darüber haben wir leider nicht die Kontrolle. Es kommt vor, dass wir Lösungen präsentieren, die unserer Meinung nach einfach zu realisieren wären, die dann aber nicht übernommen werden.

Welche Teile der Natur sind am meisten betroffen vom Artensterben?

Bei Biodiversität geht es nicht nur um das Artensterben, wenn wir über biologische Vielfalt reden, meinen wir auch genetische Vielfalt innerhalb der Arten. Für eine gesunde Population brauchen wir genetische Vielfalt. Es gibt unterschiedliche Aspekte innerhalb der Biodiversität, die genetische Vielfalt innerhalb einer Art ist die unterste Ebene. Die Vielfalt der Arten ist eine andere. Nicht jeder Aspekt ist auf die gleiche Weise bedroht. Für das Meer und die Meeresbewohner beispielsweise spielen der Klimawandel und die Fischerei eine übergeordnete Rolle, weil einerseits die Wassertemperaturen steigen, was für Korallen und Fische nicht gut ist. Andererseits wird nicht nur zu viel gefischt, sondern es sterben nach wie vor viele Arten als unerwünschter Beifang.

Was kann jeder tun?

Biodiversität im eigenen Garten fördern zum Beispiel. Und darauf aufpassen, was man konsumiert. Vor allem im Hinblick auf Essen, Material und Energie. Das ist das Allerwichtigste, im täglichen Leben auf diese Dinge zu achten, auch wo Produkte, die man kauft, hergestellt wurden. Das ist natürlich ein schmerzvoller Prozess, weil man lernen muss zu verzichten.

Die Ergebnisse der Metastudie, an der Nicolas Titeux beteiligt war, wurde letze Woche veröffentlicht. Sie ist abrufbar unter: www.science.org/doi/10.1126/sciadv.abm9982

Heike Bucher

 

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