Das kleine Haus, das groß rauskommen soll

Noch bis in den Herbst kann man in Belval die Petite Maison besichtigen, dann wird der Konzeptbau wieder in seine Bestandteile zerlegt, die wiederum neue Abnehmer*innen finden sollen. Ob darin die Zukunft des Bauens liegt, das wollen Forscher*innen herausfinden.

Source : journal.lu
Publication date : 08/29/2022

 

Ein wenig verloren steht sie da, die Petite Maison auf der weiten, versiegelten Fläche vor dem Universitätscampus. Umzingelt von den im Vergleich riesigen architektonischen Unikaten der Uni Luxemburg.

Die Szene erinnert entfernt an die in den 1950er Jahren erschienene animierte Kurzserie The Little House. Doch der Vergleich zum idyllischen Landhaus hinkt. Die unscheinbare Konstruktion wird nicht durch Fortschritt und Urbanisierung bedroht, sondern soll vielmehr exemplarisch für die Bauweise der Zukunft stehen.

Carole Schmit befasst sich schon seit Jahren mit Fragen rund um die Nachhaltigkeit in der Baubranche und kennt sich bestens im institutionellen Gefüge zwischen Unternehmen, Ministerien, Gemeinden, Verwaltungen und anderen Akteuren aus. „Wir hatten uns überlegt, einen Beitrag zu Esch2022 zu leisten, um konkret zu werden und auch sehr präzise darin, was wir hinsichtlich der Zirkularität meinen“, sagt die Architektin, die eine Gastprofessur im Architektur-Masterstudiengang an der Universität Luxemburg innehat. Ziel sei es, hochwertige Materialien so lange wie möglich in einem Lebenszyklus zu behalten, aber auch flexibel mit ihnen umgehen zu können. „Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass ein Gebäude 100 Jahre so bleibt, wie es ist“, bemerkt sie. Zwar ist es, um Ressourcen zu schonen, prinzipiell am sinnvollsten, ein Gebäude möglichst lange zu benutzen (und eine mögliche Umnutzung schon bei der Planung mitzudenken). Doch Bedürfnisse änderten sich ebenso wie Normen.

Das Projekt spannt dabei einen Bogen zur Ausstellung All we need im Kontext der Europäischen Kulturhauptstadt vor 15 Jahren. „Es war eine Ausstellung, die mich stark beeindruckte. Sie entstand im Kontext eines damals veröffentlichten Berichts des IPCC (Weltklimarat, d. Red.).“ Der Bericht machte klar, dass die Ressourcen des Planeten endlich sind und ihre Gewinnung Konflikte und Umweltschäden verursacht. Die Petite Maison soll eine mögliche Antwort in konkreter Form sein. Quasi Kreislaufwirtschaft zum Anfassen.

Das Kleine Haus, das Interessierte noch bis Oktober besichtigen können, ist deshalb auch weniger als ein Endprodukt oder gar ein Modellhaus, sondern vielmehr als Konzeptbau zu verstehen. Eine Heizung findet man darin ebenso wenig wie Schlaf- oder Badezimmer. Das Flachdach ist beispielsweise vom Rest der Konstruktion abgesetzt, um den Blick auf die verschraubten Träger freizugeben. Unter den Füßen sieht man die Betonplatten mit Aussparungen für die Befestigung mit Stahlbolzen, wo heute üblicherweise Estrich zur Begradigung, Versiegelung der Fläche und etwa das Anbringen von Fliesen aufgebracht wird. Die Fläche anderweitig abzudichten sei im Grunde nicht schwierig, führt Schmit aus. Dazu könnte die Bodenplatte von unten isoliert werden. Obendrauf könnten Holzplatten oder Trockenestrich den Belag abrunden. Doch die ihr zugrundeliegende Konstruktion sei schon komplizierter als bei einer herkömmlichen Bauweise. Das liegt daran, dass die Planung der Verbindungen zwischen Stahl und Beton präzise sein müssen. Diese Sorgfalt ist dann auch bei der Ausführung der Arbeiten erforderlich, um Beschädigungen an den Bauteilen zu verhindern.

Die hölzerne Tür drinnen, die in einen Nebenraum führt und schon einiges an Patina angesetzt hat, wurde so belassen, damit man sie als Gebrauchtobjekt erkennt. Gleiches gilt für die von Wind und Wetter gezeichneten Latten, die den überdeckten, aber offenen Außenbereich verkleiden. Sie stammen von einem Bauernhof im Norden Frankreichs. „Wir haben versucht, so viel wie möglich lokal zu machen, weil es einer der wichtigen Punkte ist, herauszufinden, was die Großregion zur Zirkularität beitragen kann und ab wann wir gezwungen sind, auf dem Weltmarkt einzukaufen“, führt die Architektin aus, die am Ursprung des Projekts steht.

Dennoch ist die auf einer Bruttofläche von knapp 100 Quadratmetern entstandene Struktur zum größten Teil mit neuen Materialien gebaut. Das kann man kritisch sehen. Beim Vor-Ort-Besuch lassen sich dafür aber zwei Erklärungen finden. Wenn größtenteils bereits auf dem Markt verfügbare Materialien und Techniken zum Einsatz gekommen sind, so gilt das beispielsweise nicht für die Verbindungskonstruktionen der Stahlträger. Den Prototypen dafür hat Prof. Christoph Odenbreit zusammen mit einem Doktoranden an der Universität Luxemburg entwickelt.

Zweitens wird heute eben noch nicht so gebaut, dass Häuser, Bürogebäude und Co. wieder in ihre Einzelteile zerlegt werden können. Auf die Frage, warum das so ist, antwortet Schmit: „Weil es aktuell keinen Markt für (gebrauchte, d. Red.) Materialien gibt und weil der Bauträger nicht spezifisch nach gebrauchten Materialien fragt. Das heißt, dass allgemein die Bauträger alle Garantien haben wollen, die mit einem Neubau einhergehen.“ Gekauft werden in der Folge Materialien, die zertifiziert und im Labor getestet wurden, um den vielfältigsten Auflagen in Sachen Dämmung, Sicherheit oder Belastbarkeit gerecht zu werden. „Nun, um alle Garantien für ein gebrauchtes Material zu haben, das ist etwas komplizierter“, räumt Schmit ein.

Darüber hinaus dominiert, wie in vielen anderen Lebensbereichen auch, der Reflex, neu zu kaufen, während dem Second-Hand-Produkt der Beigeschmack des Schmutzigen, Entwerteten anhaftet, immer verbunden mit dem Anschein von sozialem Abstieg. Wenn diese Mentalität ohne Zweifel systembedingt ist, führt die Architektin mit Blick auf die Bautradition auch historische Gründe an. „Nach dem Zweiten Weltkrieg schätzten die Menschen das Neue. Es war ein Zeichen des Erfolgs, des Wohlstands, der Modernität.“ Dr. Annie Guerriero stimmt dem zu. „Nach dem Krieg musste man alles wieder neuaufbauen, und das in Massen. Und es ist zum damaligen Zeitpunkt, dass sich die Art und Weise des Bauens verändert“, bemerkt die Architektin. Etwas, das Jean-Yves Marié, Chef des Start-up-Unternehmens Bim-y als „Industrialisierung“ des Baus bezeichnet. Baustoffe wie Beton werden in großen Quantitäten hergestellt. Die schnelle Ausführbarkeit der Arbeiten wird ein anderes, entscheidendes Kriterium. Möglichst viel muss möglichst schnell aus dem Boden gestampft werden. Zeit ist Geld.

Die Kehrseite dieser Bauweise sind unter anderem untrennbare Kompositmaterialien, durch Bindemittel kombinierte Baustoffe oder Melaminharzplatten, die eine Rückgewinnung wertvoller Primärressourcen unmöglich machen. Die Verwendung giftiger Harze oder Asbest kommt erschwerend hinzu. „Man findet wenig Wert in den Objekten, die nach 1970 datiert sind“,weiß Guerriero, die am Luxembourg Institute of Science and Technology (List) in den Bereichen Digitalisierung im Bau und Nachhaltigkeit forscht. Geht man weiter in der Vergangenheit zurück, findet man, wie das Beispiel des aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammenden Ettelbrücker Bahnhofs zeigt, hochwertige Materialien wie Stahl, Holzbalken oder Naturstein, die ihrerseits aber nicht einfach und unbeschadet zurückgewonnen werden können.

Der Wohlstand des Landes und Profitüberlegungen führen außerdem dazu, dass manche Gebäude heute lange vor ihrem Lebensende abgerissen werden, um Platz für größere, lukrativere Projekte zu machen. „Es ist vor allem der dermaßen hohe Wert von Grundstücken in Luxemburg, der seit Jahren den Abriss vorantreibt. Für viele historischen Gebäude ist das dramatisch“ , wirft Schmit ein. Es ist heute gängige Praxis, die entkernten Gerippe von Gebäuden einzureißen und in zerkleinerter Form als Aufschüttmaterial im Straßenbau zu verwenden. Andere Bestandteile werden recycled: Stahl und Aluminium können, unter Generierung von Emissionen, wieder neu eingeschmolzen werden. Viele andere Baustoffe werden hingegen verbrannt (die thermische Verwertung wird als Recycling gewertet) oder anderweitig verarbeitet (Downcycling).

Wie es anders funktionieren kann, will die Universität Luxemburg zusammen mit einer Vielzahl an institutionellen und privaten Partnern anhand der Petite Maison zeigen. Alle Bestandteile der Konstruktion sind in einem digitalen Modell (im Fachjargon: Building Information Modeling oder Bauwerksdatenmodellierung, kurz BIM) und in einer vom List gepflegten Datenbank vermerkt. Auf seinem Laptop ruft Dragos Ghioca, Architekt und Forscher an der Universität Luxemburg, eine Simulation des Gebäudes auf. Ein Klick und die Software zeigt Informationen über einen verbauten Stahlträger an. Potenzielle Käufer*innen sollen die einzelnen Komponenten später mit Blick auf eine Wiederverwendung reservieren können, wenn sie den virtuellen Gebäudezwilling, den das Start-up-Unternehmen Bim-y anfertigt, besichtigen. In dieser 3D-Umgebung sind dann auch heute verdeckte Schichten sichtbar.

Im Idealfall könnten so die Bestandteile eines Gebäudes noch vor dessen Abriss oder Dekonstruktion ein neues Zuhause finden. „Wir rechnen damit […], dass uns die Technologie dabei helfen könnte, die Lagerung (von rückgebauten Materialien, d. Red.) zu begrenzen“, fügt Guerriero hinzu. Ohnehin muss ein solches Depot erst noch entstehen. Pläne dafür gibt es bereits. Doch die Suche nach einem Standort zieht sich schon über einige Monate und auch die Finanzierung bleibt zu klären. Wie der List-Forscher Bruno Domange auf Journal-Nachfrage erklärt, sehen die Pläne ein Lager in einer Größenordnung von 2.000 m2 vor, mit sowohl Innen- als auch Außenflächen für weniger wetterempfindliches Material aus Stein etwa. Träger des vor mehr als zwei Jahren initiierten Projekts ist Luxinnovation, daran beteiligt ist außerdem das Unternehmen EcoTransFaire, die eine Machbarkeitsstudie durchgeführt haben. Carole Schmit hofft auf einen Erfolg des Vorhabens. „Wir hoffen, noch einen Schritt weiterzugehen […] und die Einrichtung einer Second-Hand-Materialplattform zu begünstigen, die heute in der Großregion noch komplett fehlt.“

Für sie ist klar, dass der Bau zum Zweck des Rückbaus und der Wiederverwendung von Baumaterialien „deutlich mehr Arbeit ist, weil zunächst muss man wissen, um was es sich handelt, sie ausmessen, ihren Zustand überprüfen und herausfinden, wie ich sie richtig verwenden kann. […] Es ist ein Anliegen, das deutlich mehr Zeit und Investition in der Konzeption verlangt.“ Die List-Forscherin Guerrerio unterstreicht die Bedeutung des Materialwissens: „Objekte, über die es keine Informationen gibt, werden zu Abfällen.“

Auch deshalb genügt eine Auflistung der verbauten Fenster, Türen oder Verkleidungen in der Konzeptphase einer Infrastruktur nicht. Ein Rohrbruch, ein Feuer, ein Erdbeben oder Umbauarbeiten: Über die Lebensdauer eines Gebäudes kann und wird viel passieren. Ob beispielsweise ein hölzerner Träger noch einmal für ein paar Jahrzehnte seine Aufgabe erfüllen kann, müsse man daher von Fall zu Fall abwägen, meint Guerriero. Die Architektin geht ähnlich den anderen Gesprächspartner*innen davon aus, dass neue Berufsbilder entstehen werden, die eine Expertise im Umgang mit Gebrauchtmaterialien aufbauen werden. Zum Beispiel, indem Holzträger mit thermischen Kameras auf einen Befall von Insekten untersucht werden. Alles, um das Vertrauen neuer Abnehmer*innen zu gewinnen.

Für Jean-Yves Marié ist klar, dass es aus rein finanziellen Abwägungen heute interessanter ist, ein Gebäude einfach abzureißen. Doch betrachtet man beispielsweise die graue Energie, die in die Gewinnung, Aufbereitung, den Transport und Zusammenbau der Bauelemente fließt, ergibt sich ein anderes Bild. „Man muss ein Gebäude wie eine urbane Ressource betrachten“, meint er. Zudem verweist er auf die gesellschaftliche und umwelttechnische Verantwortung der Unternehmen. Ein Aspekt, der für immer mehr Mitarbeiter*innen eine wichtige Rolle spiele. Dragos Ghioca erinnert seinerseits an die Materialknappheit in der jüngeren Geschichte und die gestiegenen Preise für Stahl oder Holz. „Wenn man Gebäude als Ressourcen ansieht, hat man eine andere Ressource in den bereits vorhandenen Materialien.“

Die Frage nach dem Kostenaufwand lässt sich heute noch nicht eindeutig beantworten und ist ein Erfahrungswert, der mit dem Petite-Maison-Projekt gemacht werden soll. Denn welchen Preis kann man nach 40 Jahren auf die Betonplatten setzen, welchen auf den Türrahmen? Carole Schmit geht davon aus, dass die geringeren Kosten beim Kauf eines gebrauchten Produkts durch den Mehraufwand bei der Konzeption, seiner späteren Evaluierung, dem Rückbau sowie möglicherweise die Aufbereitung eines Baumaterials wettgemacht werden könnten. Doch auch der Preis von neuen Baustoffen wird die Rechnung beeinflussen, beispielsweise die in Zukunft sicherlich wachsende Nachfrage nach Holz als Baumaterial. Möglicherweise aber genauso oder noch stärker die CO2-Bilanz.

Die Architektin Carole Schmit weist auf noch eine andere Hürde hin. Für die Architektin steht fest, dass die Genehmigungsprozeduren in der Kreislaufwirtschaft flexibler ausgelegt werden müssen. Ein Beispiel: Für ein Gebäudeprojekt soll ein Fenster aus einem Bestandsgebäude wiederverwendet werden. Der*die Käufer*in wird das Objekt aber erst dann kaufen, wenn er die Baugenehmigung hat. Weil er*sie die genauen Maße oder den Zustand des Fensters noch nicht kennt, sieht er vielleicht nur eine ungefähre Fläche in den Plänen der Baugenehmigung vor. Deshalb steht für die Architektin fest: „Die öffentlichen Instanzen müssen bei der Zirkularität mitspielen.“

Christian Block, Lex Kleren

journal.lu/de/das-kleine-haus-das-gross-rauskommen-soll

 

Share this page: